Wenn du Dzogchen hundert Menschen erklärst, die interessiert sind, genügt das nicht.
Wenn du es aber einem Menschen erklärst, der nicht interessiert ist, ist das zuviel.
Garab Dorje

 

Dzogchen bedeutet das Verstehen des ursprünglichen Zustandes des Individuums, der unkonditionierten Natur des Geistes durch eigene direkte Erfahrung. Die Natur des Geistes liegt jenseits der spezifischen Inhalte des Geistes, der Gedanken und Gefühle, die im Geist auftauchen und die eigene psychologische, kulturelle und soziale Konditionierung widerspiegeln. In gleicher Weise können wir zwischen einem Spiegel, der die natürliche, ihm eigene Fähigkeit zur Reflexion hat und den Reflexionen, die in ihm zu sehen sind, unterscheiden. Der Spiegel darf mit den Reflexionen, die in ihm erscheinen, nicht verwechselt werden.

Die komplexe, miteinander verbundene Struktur der Lehre ist in sich selbst brillant und schön wie ein facettenreicher Kristall, von dem jede Facette makellos reflektiert und sich auf alle anderen bezieht. Aber der einzige Weg, um in das Herz des Kristalls zu sehen, ist, in sich selbst zu schauen.

 

Um es genau zu sagen: Dzogchen ist unser Zustand. Wenn wir für ein Retreat zusammenkommen, geht es mir vor allen Dingen darum, euch das Verständnis unserer eigenen Situation nahezubringen. Auch wenn ich das auf unterschiedliche Weise mache, ist das, was wir Dzogchen, die Große Vollkommenheit, nennen, immer unser Zustand. Wenn ihr das begreift, kann das realer Ausgangspunkt für eine Entwicklung sein; wenn wir es nicht verstehen, wird das Marigpa, Nicht-Erkennen, Unwissenheit, genannt.

Im Dzogchen ist Unwissenheit nicht das, was wir normalerweise darunter verstehen. Im allgemeinen ist eine dürftige Bildung Voraussetzung für Unwissenheit. Nach der Dzogchen-Lehre kann eine gebildete Person in diesem Sinn sehr wohl unwissend sein, während ein ungebildeter Mensch nicht zwangsläufig unwissend zu sein braucht. Wir leugnen weder den Wert von Bildung noch unterstellen wir, dass Bildung unwissend macht. Wenn wir wissen, wie wir Bildung verwenden können, kann sie sehr nützlich sein. Doch normalerweise ist Bildung ein Hindernis für das Verständnis von Dzogchen.

Nehmt zum Beispiel jemanden, der sich ziemlich eingleisig auf östliche Philosophie spezialisiert hat. Warum hat er sich so darauf festgelegt? Weil westliche Philosophie nicht ganz zu seiner Situation passt und sie ihn nicht befriedigt. Die Folge davon ist, dass er sich in etwas anderes vertieft, obwohl es zusätzlich Studium und Auseinandersetzung mit sich bringt. Er sagt dann vielleicht, dass er mit Buddha oder Nagarjuna übereinstimmt und die Dinge da mehr Sinn für ihn ergeben als in der westlichen Philosophie. Doch das ist nichts anderes als eine intellektuelle Entscheidung, an eine bestimmte Betrachtungsweise zu glauben. Solche Leute stürzen sich in buddhistisches, hinduistisches oder konfuzianisches Gedankengut und sind überzeugt von dem, was sie durch östliche Philosophie erlernen. Tag für Tag vertiefen und entwickeln sie diese Überzeugung und fühlen den »Reichtum des Wissens«, doch in Wirklichkeit haben sie sich durch ihre Ideologie konditioniert. Wenn jemand von allem überzeugt ist, was Nagarjuna in der buddhistischen Philosophie sagte, dann ist er ein vollkommener Sklave von seiner Ideologie geworden, das heißt, er lehnt andere buddhistische Schulen oder hinduistische Philosophien ab. Das mag fabelhaft erscheinen, dennoch ist es verkehrt, denn jeder durch Studium und Ideologie gewonnene Standpunkt kann wieder in sich zusammenfallen.

Im Dzogchen solltet ihr nicht irgend etwas Falsches oder Künstliches konstruieren. Ihr müsst euren wirklichen Zustand und das, was ihr macht, verstehen. Wenn wir von Tawa, der Sicht oder Sichtweise, sprechen, meinen wir damit, dass wir das entdecken, was wirklich ist.
Ganz allgemein bezieht sich Tawa darauf, wie verschiedene Schulen die Philosophie ihrer eigenen Schule erklären. Beispielsweise gilt im Mahayana die Sichtweise von Nagarjuna als vollkommen. Jemand, der sie übernommen hat, wird die Tendenz haben, alle Sichtweisen zu kritisieren, die mit der von Nagarjuna nicht übereinstimmen. Wenn jemand stärker zur Nyingma-Tradition neigt, wird er bestrebt sein, sich die Belehrungen von Longchenpa zu eigen zu machen. Wenn dann Andere Kritik an den Nyingmapa üben, wird er die Schriften von Longchenpa verwenden, um seine Tradition zu verteidigen. Dies ist normalerweise mit Tawa, der Sichtweise, gemeint.

Die Sichtweise von Dzogchen ist es jedoch nicht, nach außen zu schauen und zu urteilen. Im Dzogchen sollte man sich im Zustand des Wissens befinden. Deshalb verwenden wir Brille und Spiegel als Beispiele. Durch eine Brille kann man nach außen, auf äußere Objekte schauen – ein Beispiel für den dualistischen Blickwinkel. Für das Prinzip des Dzogchen steht der Spiegel: Wir schauen hinein, um uns selbst zu entdecken.

Wenn ihr euch entscheidet, einem Meister oder einer Meisterin zu folgen, müsst ihr nicht blind alles glauben, was er oder sie sagt. Ein Meister ist kein Befehlshaber, an dessen Lippen ihr hängt und nach jedem seiner Worte: “Jawohl!” sagt. Ihr solltet aber auch nicht einen Meister aufsuchen, nur um mit ihm zu argumentieren. Es ist ein Fehler, mit einem Meister argumentieren zu wollen, denn das ist nichts anderes, als weiter mit dem Verstand zu arbeiten. Wir benutzen den Intellekt seit endlos langer Zeit und haben damit nichts erreicht. Wir können den Prozess des Leidenskreislaufs von Samsara durch weiteres Argumentieren nicht anhalten. Der entscheidende Punkt ist, ihr müsst euch bemühen zu verstehen, was der Meister zu erklären versucht. Er gibt euch keine weiteren intellektuellen Konstruktionen. Er versucht lediglich, euch Methoden an die Hand zu geben, damit ihr euch selbst entdeckt. Es liegt dann an euch, das zu verstehen und die Methoden anzuwenden. Natürlich kann ein Meister die unterschiedlichsten Ratschläge, Methoden und Praktiken geben, um Erkenntnis zu erlangen. Doch auf keinen Fall kann er ein Wunder bewirken, das euch verändert, und er kann auch keine plötzliche Erleuchtung herbeizaubern.

Viele Leute haben das Gefühl, dass sie nicht das Geringste erreicht haben, obwohl sie über Jahre hinweg vielen verschiedenen Lehrern gefolgt sind. Kaum hören sie von einem anderen Meister, laufen sie hin und hoffen, dass sie nun endlich erleuchtet werden. Doch kein Meister ist dazu in der Lage. Die Stärke eines Meisters liegt in der Fähigkeit, die Lehre zu erläutern. Wenn jemand Methoden erhalten hat, sie anwendet und in den Zustand des Wissens gelangt, dann hat der Meister tatsächlich ein Wunder vollbracht.

Ungeachtet der Namen, die wir Dzogchen geben, gibt es immer die Übertragung durch den Meister, die im einzelnen Menschen diesen Zustand des Wissens öffnet. Das heißt nun nicht, dass sich etwas Großartiges ereignet und alles wunderbar wird; vielmehr ist es ein Zustand des Wissens, der wahr gemacht, oder, anders ausgedrückt, realisiert werden soll. Zu diesem Zweck gibt es viele verschiedene Methoden. Der Meister erklärt und überträgt das Wissen und die Methoden, er arbeitet mit den Menschen zusammen, um ihnen zu helfen.

Viele Leute fragen sich, wozu braucht man einen Meister, wenn man den Dzogchen-Belehrungen folgt? Reicht es nicht, ein Buch zu lesen, das alles genau erklärt? Damit ist nicht gesagt, dass ein Buch keinen Wert hätte – aber es hängt sehr stark von der Person ab, die sich damit beschäftigt. Wir nehmen immer an, dass Menschen, die den Dzogchen-Lehren folgen, eine positive und eindeutige Ursache dafür haben, sonst würden sie nicht dahin kommen. Wenn jemand keine spezielle Ursache dafür hat, sich aber trotzdem durch eine bestimmte Wachheit auszeichnet, kann ein Buch für ihn sehr nützlich sein. Im Idealfall sollte man versuchen, einem Meister zu folgen, denn der Meister hat die lebendige Übertragung, die vom Ursprung der Lehre an weitergegeben wurde. Er kann diese Übertragung nutzen, um mit jedem auf der Ebene von Körper, Stimme und Geist zu arbeiten. So ist es für den einzelnen viel einfacher, den Zustand des Wissens zu finden, und nicht länger verwirrt zu sein.

In Tibet sagen wir, dieser Mensch ist nicht länger wie ein kleines Hündchen im Nebel, das nicht weiß, wohin es gehen soll. Der Meister weiß auch, wie man die Anwendung von Rigpa durch den Gebrauch von vielen unterschiedlichen Methoden, entsprechend den Bedürfnissen des einzelnen, entwickeln und festigen kann. All diese Dinge ergeben sich aus der Zusammenarbeit mit einem Meister oder einer Meisterin.

Die Dzogchen-Lehren sind lebendiges Wissen, das übertragen und angewendet wird. Sie sind kein Spezialistenwerkzeug für Spiritualität. Diese Belehrungen sind nützlich für alle, die mit beiden Beinen im Leben stehen wollen. Für diejenigen, die ihnen vertrauen, sind sie sogar noch nützlicher. Denen, die an nichts glauben und für die es auch nach dem Tod nichts gibt, könnten sie zu einem friedlicheren Leben verhelfen. Um wirklich Ruhe zu finden, musst du den Zustand des Wissens erfahren haben und wissen, wie du dich darin entspannst. Wenn du deinen wirklichen Zustand entdeckst hast und dich tatsächlich in ihm befindest, wirst du schließlich auch die Bedeutung von Entspannung entdecken. Bis dahin ist es noch eine Konstruktion des Verstandes, selbst wenn du meinst, du wärst entspannt.

Wir reden immer von “Entspannung”. Es ist einfach zu sagen, “Entspanne dich, entspanne dich, sei nicht so verkrampft!” Die meisten Leute haben keine Ahnung davon, wie sie sich ganz und gar entspannen können. Einige wissen gerade, dass sie ein bisschen den Körper entspannen, wenn sie sich aufs Bett legen. Andere wissen vielleicht, wie die Körperenergie durch Atemübungen entspannt werden kann. Doch das sind Wege der Entspannung auf der relativen Ebene, die mit der Zeit verbunden ist, und Zeit wiederum ist verbunden mit sekundären Bedingungen.

Jetzt bin ich entspannt. Jeder kommt zu mir und sagt: »Frohe Weihnachten!«. Man bringt mir Kuchen oder Geschenke. Warum sollte ich verkrampft sein? Die Umstände sind sehr günstig. Doch vielleicht fängt es morgen zu schneien an. Dann könnte ich möglicherweise nicht spazierengehen. Auch könnte jemand mich besuchen und mich in eine Diskussion verwickeln, anstatt Geschenke zu überreichen. Sicherlich ist es unter diesen Umständen schwieriger, sich zu entspannen. Die Bedingungen auf der relativen Ebene sind mit der Zeit verknüpft, alles verändert sich. Auch wenn es euch gelingt, Stimme und Geist zu entspannen, wird das immer nur provisorisch sein. Deshalb sind Belehrungen notwendig.

Buddha legte dar, dass Samsara durch Leiden gekennzeichnet ist. Leiden ist eine Tatsache, nicht etwas, wovon man nur spricht. Ob wir nun uns selbst oder andere beobachten, wir sehen, Leiden und Frustration sind immer vorhanden. Wer sich nicht entspannen kann, wird nur noch verkrampfter, wenn sich ein Problem einstellt. Wir wissen selbst, wenn wir in Eile sind, sind wir aufgedreht und dann geht nichts. Manche Leute stehen am Morgen zu spät auf, wenn sie ins Büro gehen müssen. Weil sie zu spät sind, sind sie hastig. Sie ziehen ihre Hosen verkehrt herum an, was ihnen normalerweise nicht passiert. Sie machen denselben Fehler beim Anziehen der Weste. Und wenn sie dann losgehen wollen, finden sie den Schlüssel nicht. Jeder macht solche Erfahrungen. Das zeigt, wir haben Probleme, wenn wir angespannt sind, und die einfachsten Dinge werden kompliziert. Rein verstandesmäßig könnten wir uns sagen: »Ich soll mich nicht verkrampfen, ich muss mich entspannen!« Doch das ist nicht so einfach. Ihr braucht ein bestimmtes praktikables Wissen dazu und das wiederum braucht eine Grundlage. Wir können sagen, dass die Dzogchen-Lehren uns den Weg zeigen, uns ganz und gar zu entspannen. Nun könnt ihr verstehen, weshalb Lernen, Anwenden und Praktizieren von Dzogchen für jeden unentbehrlich ist.

Chögyal Namkhai Norbu, Spiegel des Bewusstseins, Diederichs Verlag
 

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Es heißt, in der Dzogchen-Lehre gibt es weder Regeln noch Gelübde oder Verpflichtungen. Das kommt daher, weil diese Lehre jenseits einer solchen Ebene ist. Warum gibt es da keine Regeln? Weil Regeln eine Möglichkeit sind, Menschen zu konditionieren, wenn man sich darauf versteht.

Wir versuchen, im Dzogchen zuallererst Erkenntnis zu gewinnen, um volle Verantwortung für uns und das eigene Leben zu übernehmen. Aus gleichem Grund gibt es da auch keine Gelübde. Denn auch ein Gelübde abzulegen ist eine Art Konditionierung seiner selbst. Ein Versprechen oder eine Verpflichtung schränkt eine Person ein und ist in der Zeit begrenzt.

Wenn wir über die Samayas, die Gelübde oder Verpflichtungen, bei Dzogchen sprechen, können wir sie mit vier Prinzipien erklären. Wenn sie manchmal Versprechen oder Gelübde genannt werden, versteht man darunter meist die Verpflichtung, etwas zu tun. Doch die vier Prinzipien [im Dzogchen] implizieren nicht, dass etwas getan werden soll. Vielmehr haben sie etwas mit Erkenntnis zu tun, [und] Erkenntnis ist jenseits eines Versprechens. Die vier Prinzipien werden zwar Verpflichtung genannt, tatsächlich sind sie aber vier Betrachtungsweisen oder vier Aspekte der Erkenntnis.

Mepa (med pa), »da ist nichts«, ist der erste dieser Samayas. Wenn man nämlich sagt, “da ist etwas”, entsteht sofort ein Konzept. Und wo ein Konzept ist, ist auch der Ansatz für dualistisches Denken gegeben. Die Aussage “da ist nichts”, ist kein Konzept, sie ist eine Erkenntnis.
Es gibt einen Text, der eine Art Zusammenfassung der Dzogchen-Lehren darstellt. Er trägt den Titel: “Der Ruf des Kuckucks”, Rigpä Khujug. [In Deutsch ist der Text in Diederichs Gelber Reihe 154 unter dem Titel “Spiegel des Bewußtseins”, Hugendubel 1999, erschienen.] Darin steht folgender Satz: “Ji shinwa she mi tog”. “Ji shinwa” bedeutet “so, wie es ist”. Auch dies sollte nicht als Konzept aufgefasst werden, als eine begriffliche Erklärung zu dem, was ist.

Wenn jemand sagt: “Da ist nichts”, und wenn das dann selbst zu einem Konzept wird, macht das keinen Sinn. Wenn du jemanden fragst: “Wie heißt du?”, und er antwortet: “Ich habe keinen Namen”, und du dann rufst: “He, ‘Kein-Name’, komm mal her!”, dann ist “Kein-Name” zum Namen geworden. Mepa, “da ist nichts”, darf man nicht zu einem Konzept machen. Es ist eher Erkenntnis.

Nun der zweite dieser Dzogchen Samayas : Chalpa (‚chal ba’). Es bedeutet: “Alles ist gegenwärtig” und auch man selbst ist in dieser Gegenwärtigkeit von allem voll präsent. Wenn wir über den “ursprünglichen Zustand” sprechen, über die ursprüngliche Bewußtheit jedes Menschen, so – ihr erinnert euch – sprechen wir von Essenz und Natur. Die Essenz ist leer. Da ist nichts. Die Natur jedoch ist Klarheit.

Um die Bedeutung zu verstehen, haltet ihr inne, um die eigenen Gedanken zu beobachten: Sie steigen auf, ihr schaut sie an. Ihr wisst nicht, woher sie kommen. Es gibt keinen Ursprungsort, ihr findet nichts. Das wird als Essenz angesehen: Es ist nichts da. Aber obwohl da nichts ist, tauchen unaufhörlich Gedanken auf. Ihr bemerkt den nächsten Gedanken. Es gibt immer noch nichts zu entdecken, woher er eigentlich kommt – schon taucht der nächste Gedanke auf. Im Grunde ist nichts da, aber es passiert ständig etwas, es geschieht dauernd, es ist eine fortlaufende Geschichte, die wir wahrnehmen. Das ist mit Klarheit gemeint, die wir Natur nennen.

So geht es uns auch, wenn wir über diese vier Verpflichtungen oder Betrachtungen sprechen. Zu allererst ist da gar nichts. Dennoch ist alles gegenwärtig, und wir selbst sind darin präsent. “Nichts ist da” bedeutet nicht, dass da nichts ist. Und es gibt nicht irgendetwas, das man als “Nichts“ lokalisieren könnte. Alles ist präsent, vorhanden. Das ist also die zweite Betrachtungsart, Chalpa. Sie bedeutet, wie immer die Umstände oder Ereignisse sind: Hier sind sie.

Der dritte Samaya wird Chigpu (gcig pu) genannt. Chigpu bedeutet “einzig”, und diese Singularität bezieht sich auf den Zustand des Individuums als solchen. Wenn wir über das Universum sprechen, können wir eine Menge komplizierter und phantastischer Erklärungen geben. Auch wenn es um die karmischen Visionen der sechs Daseinsbereiche geht, können wir eine Art geografische oder kosmologische Vorstellung entwickeln. Doch in Wahrheit finden wir all das tatsächlich nur in uns selbst, im Zustand jedes Einzelnen. Wenn wir über die Natur des Spiegels sprechen, ist es genau so: Der Spiegel reflektiert nur. Deshalb sagen wir, der Zustand des Individuums selbst ist das Zentrum des Universums. Das ist mit “einzig”, gemeint. Dies gilt für jeden Menschen. Es bedeutet aber nicht, dass ich das Zentrum des Universums bin und ihr etwa ein Teil von mir oder dass ihr der Ausdruck meiner selbst seid. Der Zustand jedes Individuums wird so erklärt. Diese Art Betrachtung, Chigpu, ist Erkenntnis.

Der letzte der Dzogchen Samayas wird Lhundrub (lhun grub) “von sich aus vollkommen” oder “von Natur her vollkommen” genannt. Es ist jenes Prinzip der Dzogchen-Lehre, das besagt, dass jeder Mensch ganz, von Anbeginn an vollkommen ist. Wenn ein Meister uns die Dzogchen Lehren überträgt, ist das, was er überträgt, diese gefühlte und gelebte Erkenntnis. Als Individuum versuchst du dies zu verstehen. Und wenn du den Weg der Praxis gehst, versuchst du, in diesem Zustand zu leben, selber den Zustand der Erkenntnis zu finden. Am Ende versuchst du, diesen Zustand, dieses Wissen, weiter zu entwickeln, bis du dich schließlich selbst verwirklichst. Zu versuchen, in dieser Erkenntnis zu leben, stetig diesen Zustand fortzusetzen, das ist es, was wir ein Versprechen oder eine Verpflichtung nennen. Andere Gelübde gibt es im Dzogchen nicht. Das bedeutet es also.

Wenn ihr dieses Thema studiert, etwa als Tibetologen, wenn ihr zum Beispiel das Nyingthig Yabshi (sNying thig ya bzhi) studiert, findet ihr dort Erklärungen zu Versprechen oder Gelübden. Die Gelehrten schreiben, dass es im Dzogchen manchmal Gelübde gäbe und manchmal nicht. Und dann sagen sie, sie könnten eine Reihe von Erklärungen über Gelübde geben. Aber es ist nicht Sache des Dzogchen, aus dem Kopf heraus intellektuelle Erklärungen zu geben, es ist eher einfach.

Es gibt die zwei Möglichkeiten, den Weg des Dzogchen zu sehen. Eine davon ist die Sichtweise des Anuyoga. Im Anuyoga wird das Wort Dzogchen dazu verwendet, den letztendlichen Zustand, den “Punkt der Ankunft” zu beschreiben. Im Anuyoga-System gibt es Visualisation und Transformation. Auf dem Weg zur Transformation muss man seine Fehler bekennen; dabei nimmt man Gelübde auf sich und übernimmt Verpflichtungen, so wird es erklärt. Das wird dann zusammengefasst in drei prinzipielle Gelübde, die Gelübde des Körpers, der Stimme und des Geistes genannt werden. Die Gelehrten machten aus diesen drei Gelübden fünfundzwanzig und arbeiteten sehr detaillierte Erklärungen dafür aus, was sie sind, wie sie beachtet werden müssen, und manches mehr. Das müsst ihr wissen, wenn von den zwei Aspekten des Dzogchen die Rede ist.
Versprechen und Gelübde sind etwas, das selbstverständlich mit der Haltung und dem Verhalten verbunden ist.

Im Dzogchen gibt es keinerlei Versprechen oder Gebote. “Es gibt keine Gebote” impliziert, dass es stattdessen Bewusstheit gibt. Man hat gelernt, dass weder Gelübde noch Regeln vorhanden sind, und das ist unverzichtbar. Dieses besondere Wissen, das kontinuierliche Bewusstheit beinhaltet, ist auch eine Art Verpflichtung, die eingehalten werden muss. Denn wenn man das nicht auf diese Weise versteht und jemanden sagen hört, dass es [im Dzogchen] keine Versprechungen und Verpflichtungen gibt, sagt ihr euch sonst: “Gott sei Dank, das macht’s leicht. Ich muss ja gar nichts tun”. Es scheint eben nur so, als ob in den Lehren keine Verpflichtungen oder Versprechen vorhanden seien.

In Wahrheit ist es eine sehr viel schwierigere Position – weit entfernt davon leicht zu sein. Denn es bedeutet, dass man die Verantwortung nicht auf die Regel abwälzen kann. Ihr habt die Verantwortung hundertprozentig selbst übernommen. Einer Regel zu folgen, die euch vorgibt, wie ihr euch etwa auf einer bestimmten Straße verhalten sollt, ist recht einfach. Wenn euch jedoch gesagt wird: “Tu dein Bestes, ganz gleich mit welcher Situation du konfrontiert wirst und mit wem du es zu tun hast”, ist das etwas ganz Anderes. Denn du fragst dich dann: “Nun, wer weiß, was auf mich zu kommt. Wer weiß, wen ich treffen werde, was zu besprechen sein wird; was wird wohl passieren?”

Wenn du ein Kind zu jemandem schicken willst, wird es fragen: “Papa, was soll ich sagen?” Du antwortest: “Sag ihm bitte …, genau das. Das ist die Botschaft, die du ihm überbringen sollst. Dann komm gleich zurück.” Das Kind geht los, und ist ganz glücklich. Dort angekommen, sagt es: “Von meinem Papa soll ich … ausrichten.” Dann geht es zurück.

Es ist ja sehr viel einfacher, wenn präzise angegeben wird, was getan oder was nicht getan werden soll. Wenn ich meinen kleinen Sohn irgendwo hinschicke, ihn mit einer bestimmten Situation konfrontiere und ihn mit jemandem sprechen lasse, wird er, wenn er seinen Verstand gebraucht, seinen Vater fragen: “Papa, ich weiß ja gar nicht, was ich sagen soll, und wie soll ich es sagen?“ Wenn er mich das so fragt, was antworte ich ihm?

Das ist gerade erst der Anfang von dem, worüber man nachdenkt. Was du dir im Voraus zurechtlegst, muss ja keineswegs mit dem übereinstimmen, was dann auch tatsächlich gesagt und getan wird, wenn die Situation da ist. Das ist es, was wir mit “Verantwortung übernehmen” meinen.

Im Dzogchen trägt anstelle von “Sollen und Müssen” der Einzelne also voll die Verantwortung. Das gilt in jeder Hinsicht. Es betrifft die Praxis, die Eigenart jedes Einzelnen, es betrifft Verpflichtungen und Gelübde. Auch unsere Haltung und unser Verhalten wird von uns bestimmt. Das ist nichts Vages, es ist etwas sehr Präzises, das sich folgerichtig aus der realen Erkenntnis der jedem Menschen innewohnenden Natur ergibt.

Chögyal Namkhai Norbu, Talks in Conway, Juli 1982
 

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Das augenscheinlichste Prinzip der heutigen modernen Gesellschaft, in der wir Menschen leben, ist der Fortschritt. Dieser Fortschritt ist das Ergebnis der Entwicklung der menschlichen Kenntnisse, Grundlage jeglicher Optimierung in der Landwirtschaft, wie auch in der Industrie, um die Lebensumstände der Völker zu verbessern.

Wir sind alle Teil der Gesellschaft und es ist natürlich, dass wir dieses Prinzip teilen. Da es scheint, dass wir uns dies als unser konkretes Ziel gesetzt haben, tragen wir Tag für Tag zu einem raschen Fortschritt, einer Veränderung der Gesellschaft bei. Das gesellschaftliche Interesse liegt genau darin, durch den Fortschritt alle materiellen Schwierigkeiten zu überwinden und unseren Lebensstandard zu verbessern.
Wenn der Fortschritt Nutzen und Wohlstand für die Gesellschaft bedeutet, sollte der Mensch als Urheber des Fortschritts die Kontrolle über die Gesellschaft aufrecht erhalten und den Wohlstand genießen. Und es ist unnötig zu sagen, dass, wenn der Einzelne als Mittelpunkt der Gesellschaft in die entgegengesetzte Richtung ginge und zum Sklaven der Gesellschaft würde, der Fortschritt niemals sein wahres Ziel erreichen könnte.

Doch wir sind an die dualistische Vision gewöhnt und durch sie konditioniert. Daher müssen wir uns darüber bewusst sein, dass auf die gleiche Weise, in der die Existenz eines Einzelnen endet, wenn seine Lebenskraft verbraucht ist, diese Art des Fortschritts mit dieser Gesellschaftsform zu Ende gehen könnte.

Die Höhe eines Gebäudes muss zum Beispiel der Tragfähigkeit der Fundamente entsprechen, und kann nicht willkürlich festgelegt werden. Wenn, um ein anderes Beispiel zu nehmen, der Mensch eine Maschine baut und deren Leistungsmöglichkeiten festlegt, muss er sie immer auf Grundlage jener Möglichkeiten in Betrieb nehmen, denn eine Maschine kann ihre Funktion nicht den Bedürfnissen des Menschen anpassen. Aber wenn der Mensch zum Sklaven der Maschinen wird, gibt es keine Garantie dafür, dass er die Kontrolle über sie wiedererlangen kann, nur weil er sie geschaffen hat. Ebenso ist klar: Definiert man die Fähigkeit des menschlichen Geistes auf der Grundlage von Äußerem, dann werden unvermeidlich auch die Wirkungsmöglichkeiten der Energie des Individuums durch das Objekt, durch das Äußere begrenzt sein.

Sobald eine Gesellschaft einen gewissen materiellen Fortschritt erreicht und sich das intellektuelle Niveau entwickelt hat, die materiellen Probleme fast alle gelöst worden sind, und die aktuellen Veränderungen dafür klare Beweis liefern, ist es unumgänglich, dass sich die Konflikte zwischen Subjekt, dem Individuum, und Objekt viel offener manifestieren. Wenn nämlich eine Gesellschaft auf dem Objekt begründet ist, so fortschrittlich und raffiniert sie auch sein mag, ist es natürlich, dass sich das Individuum früher oder später die Frage nach dem Sinn von all diesem Fortschritt stellt und nach einer für sich selbst authentischen Antwort sucht. Doch solange diese Antwort nicht aus seinem Inneren kommt, findet er kein Motiv, das ihn zufriedenstellt: Das beweisen ihm ganz klar die Widersprüche der materialistischen Gesellschaft.

Was das Subjekt, das Individuum, betrifft, so gibt es nichts Höheres oder Tiefgründigeres als das, was wir gemeinhin „Ich“ und „Wir“ nennen. Und zum Wohl und im Interesse dieses „Ich“, der Grundlage aller unserer Vorstellungen, sprechen wir von Freiheit. Die Freiheit, von Buddha vor mittlerweile zweitausendfünfhundert Jahren als wahres Glück definiert – im Gegensatz zur Konditionierung als der Ursache allen Leidens – ist der Dreh- und Angelpunkt aller Auffassungen, denn die Freiheit ist im Interesse aller. Aus diesem Grunde sind wir seit langem daran gewöhnt, von der Freiheit Reden zu hören. Und sie ist auch zum Hauptargument der politischen Parteien geworden. Doch auch wenn alle von ihr sprechen, so wird der Freiheit und ihren Auswirkungen, ihren verschiedenen Aspekten und ihren Anwendungsmöglichkeiten sehr unterschiedliche Bedeutung beigemessen. Als Folge erweist es sich oftmals, dass das, was einige für Freiheit gehalten haben, das Gegenteil davon ist.

Wenn man die Idee von Freiheit verfolgt, liegen dem im Allgemeinen positive Absichten zugrunde, wie sehr diese Vorstellung auch durch den Glauben und die individuellen geistigen Fähigkeiten eingeschränkt sein mögen. Dieses Wort wird wohl kaum in der offenkundigen Absicht verwendet, den eigenen Interessen und denen anderer zu schaden, und Leiden zu verursachen. Was immer wir mit unserem dualistischen Verstand entscheiden, kann dennoch dessen Grenzen nicht überschreiten und es geschieht daher häufig, dass die Idee der „Freiheit“ nur eine theoretische Vorstellung bleibt, ohne irgendeine konkrete Auswirkung.

Solange wir uns nicht aus dem Netz der dualistischen Vision befreien, bleibt die Freiheit immer etwas Falsches. Um die Grenzen des Dualismus zu überwinden muss man den wahren Zustand erkennen und dies ist das Ziel der Dzogchen-Praxis. Nur auf diese Weise kann der Fortschritt der Gesellschaft wahrhaftig in Harmonie mit dem Individuum entstehen und das tatsächliche Interesse aller repräsentieren.

Einige könnten einwenden, dass eine solche, von der Praxis herrührende Freiheit nur zum Wohl einer begrenzten Anzahl von Menschen sein kann, und die Probleme der Gesellschaft nicht lösen kann. Die dringlichste Notwendigkeit sei aber, die materiellen Schwierigkeiten zu beseitigen mit denen wir in unserer Gesellschaft konkret konfrontiert sind.

Das ist wahr, wir müssen alle versuchen so gut wie möglich zusammenzuarbeiten, um die materiellen Probleme der Gesellschaft zu lösen. Wir müssen nämlich, solange wir leben, innerhalb der Gesellschaft leben, weil wir ein Teil davon sind. Folglich genießen wir ihre Vorteile und sind ihren Schwierigkeiten unterworfen. Aber es geht nicht, dass ein Praktizierender des Dzogchen aus der Gesellschaft aussteigt, sich von ihr isoliert und in Frieden für sich alleine lebt. Er hätte heutzutage noch nicht einmal die Möglichkeiten dafür. Wenn wir am Fortschritt der Gesellschaft mitarbeiten müssen, ist es aber notwendig, sich immer vor Augen zu halten, dass nur wir als Individuen die Vorteile der Gesellschaft genießen und auch wir als Individuen die einzigen Träger der Gesellschaft sind.

Die Gesellschaft ist die Summe vieler Individuen, aber die Summe fängt logischerweise beim Einzelnen an. Um eine freie Gesellschaft zu haben, muss daher jedes Individuum in sich wahrhaft frei sein und innerhalb der Gesellschaft in Freiheit handeln können. Wenn man sich wie Schafe treiben lässt, die einem Schäfer auf die Weide folgen, wird man dieses Ziel nicht erreichen. Dieser Zustand der authentischen inneren geistigen Freiheit eines jeden Individuums ist die wirkliche Bedeutung von „Dzogchen“ und nun verstehen wir, dass Dzogchen dem letztendlichen Ziel der Gesellschaft entspricht.

Da wir alle sehr an Religionen und Sektierertum gewöhnt sind, denken wir, bei dem Begriff Dzogchen sofort, dass es sich um etwas handelt, dass außerhalb der Gesellschaft oder fremd von ihr ist. Aber dieser Name ist in Wirklichkeit lediglich eine von unserem Verstand festgelegte Definition. Es existiert außerhalb von uns nichts, das „Dzogchen“ heißt oder mit diesem Namen definiert werden könnte. Ein Name ist nur für die zwischenmenschliche Kommunikation notwendig und aus diesem Grunde haben die Wissenshalter in alter Zeit dem tiefgründigen Zustand des Seins den Namen „Große Vollkommenheit“, Dzogchen, gegeben.

Dzogchen bedeutet, dass ein Individuum ein ganzheitliches Wissen von Urgrund, Weg und Frucht des Zustandes der spontan vorhandenen Vollkommenheit besitzt und konkret die Essenz der Methoden anwendet, um diesen Zustand zu verwirklichen. Es macht in diesem Fall keinen Unterschied, wenn man dem einen anderen Namen gibt. Die, die diesen Zustand erkannt haben, werden „Dzogchenpa“ genannt, „Praktizierende des Dzogchen“: Wo immer sie auch leben mögen, sind die Dzogchen-Belehrungen lebendig. Manche meinen, dass die Lehren des Dzogchen aus den Schriften der Tantras, Agamas und Geheimen Unterweisungen bestehen, doch scheint mir das nicht präzise. Die Tantras und die anderen Serien der Unterweisungen nämlich haben sicherlich das Ziel, den Sinn von Urgrund, Weg und Frucht des Zustandes des Dzogchen zu erklären und auf der Grundlage dieser Erklärungen müssen wir das Wissen entwickeln. Aber im Zentrum von allem ist das Bewusstsein und dieses realisiert den Zustand. Wenn im Individuum das Wissen nicht erwächst, bringen die Dzogchen Schriften, wie viele auch existieren mögen, keinen Nutzen.

Die Lehre des Dzogchen lebt daher im Bewusstsein des Individuums und da viele Individuen zusammen die sogenannte Gesellschaft bilden, kann Dzogchen nicht etwas sein, was die Gesellschaft nicht betrifft. Wir sind Teil der Gesellschaft, wir leben in ihr, müssen zu ihrem Fortschritt beitragen. Dies reicht als Beweis, dass Dzogchen eine wirkliche Beziehung zur Gesellschaft hat. Diese Beziehung besteht auf natürliche Weise und muss nicht künstlich konstruiert werden.

Wenn wir die wahre Beziehung zwischen Gesellschaft und individuellem Bewusstsein wirklich verstehen, und auf der Grundlage dieses Prinzips versuchen zusammenzuarbeiten, um die Gesellschaft zu verbessern, wird der Fortschritt endlich allen, ohne Unterschied, konkreten Nutzen bringen können. Und es kann ein Zeitalter entstehen, in dem wir alle, befreit von den Fesseln der Dualität, der Ursache aller zwischenmenschlichen Probleme und Konflikte, ein authentisches Wohlbefinden und Glück genießen.

Chögyal Namkhai Norbu, Spiegel des Bewusstseins, Diederichs Verlag
 

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